Wo war da die Gerechtigkeit?
JESSICAS KOLUMNE
Farbenfrohe Dekorationen erhellen die kahlen Betonwände, weisse Laken kaschieren die schäbigen Plastiktische und die rhythmische Musik verleiht der Babyshower eine überbetont fröhliche Note. Liliana* sitzt mit dickem Bauch auf ihrem Stuhl, nimmt mit einem dankbaren Lächeln die Geschenke entgegen, die ihr die eintrudelnden Gäste überreichen.
Doch weder die pompösen Dekorationen noch die verführerischen Häppchen mögen darüber hinwegtäuschen, dass die Stimmung leicht gedrückt und die Freude nicht vorbehaltslos ist.
Wenige Wochen später brachte Liliana ihr drittes Kind von einem dritten Vater zur Welt. Die alleinerziehende junge Frau lebte mit ihren Kindern bei ihrer Mutter sowie deren weiteren Kindern. In einem Haus, in dem es mehr Fernseher als Fenster gab und in dem die Hausaufgaben auf dem Boden erledigt wurden, mangels vorhandenen Tisches.
Dass ein Jahr zuvor mein drittes Kind, ebenfalls ein Mädchen, geboren worden war, verband uns auf eine besondere Weise. So freute ich mich immer, wenn ich Liliana mit ihrer kleinen Mia* bei uns im Projekt antraf. Doch da war auch immer dieser bittere Nebengeschmack, wenn ich unsere jüngsten Töchter betrachtete. Zwar wuchsen sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt auf, dennoch lagen Welten zwischen ihnen. Welche Aussichten hatte die kleine Mia, die in einem Quartier aufwuchs, das von Alkohol, Drogen und Bandenkriegen geprägt war? In dem zahlreiche Mädchen im Alter von 15 Jahren schwanger sitzengelassen werden? Meine kleine Joana krabbelte zwar zwischen den gleichen Kirchenstühlen hindurch wie Mia, dennoch schienen ihr die Türen einer verheissungsvollen und selbstbestimmten Zukunft offen zu stehen. Wo war da die Gerechtigkeit?
Ein Thema, mit dem ich immer wieder haderte. Manchmal zeigte sich dies darin, dass ich Gott beinahe anklagend die traurige Realität der Kinder um mich herum hinlegte. Manchmal aber war ich auch einfach dankbar, dass Gott mich dazu brauchte, diese Kinder ein Stück auf ihrem Weg zu begleiten, um kleine Schritte in eine etwas hoffnungsvollere Zukunft zu wagen. In alldem wurde mir bewusst: Ich muss in diesen Schicksalen nicht krampfhaft nach einem Sinn suchen. Ich muss Gott weder erklären noch rechtfertigen. Inmitten all der Fragen und Verzweiflung habe ich die Gewissheit: Gott hat diese Kinder nicht vergessen. Er kennt und liebt sie. Er hat Träume für sie. Und mein Auftrag? In meiner Berufung zu leben und treu im Kleinen dazu beitragen, dass Gottes Reich bereits jetzt auf Erden sicht- und greifbar werden darf.
*Namen aus Personenschutzgründen geändert
Jessica Freiburghaus
Auf den ersten Blick war oft nicht ersichtlich, in welch unterschiedlichen Welten unsere Kinder aufwuchsen.