Mit Ungerechtigkeit umgehen müssen


Was // STAY
Wo // Guatemala
Wer // Murielle Beer
Wann // 2025


 

Ungerechtigkeit prägt vieles, was in unserer Welt geschieht. Auch unsere Mitarbeitenden von Latin Link begegnen in ihrem Einsatz in Lateinamerika immer wieder schwierigen Situationen. Wir haben bei Murielle nachgefragt, was Gerechtigkeit für sie bedeutet und wie sie persönlich mit Ungerechtigkeit in Guatemala umgeht:

Was verstehst du unter Gerechtigkeit?
Jeder Mensch auf dieser Welt hat als Grundrecht das Recht auf Würde. Menschen sollten gleich behandelt werden, ohne Diskriminierung und Benachteiligung. Ich glaube an einen Gott, der gerecht ist und Gerechtigkeit liebt. Jesus ist für mich ein Synonym von Gerechtigkeit. Er brachte Gerechtig­ keit für Unterdrückte, Kranke und Ausgeschlossene. Jesus kam, um die freizumachen, die an ihn glauben. Er drängte sich nicht auf. Jeder Mensch ist frei, Jesus nachzufolgen oder nicht. Hier auf Erden wird es leider immer Ungerechtigkeit geben. Wir können uns aber Jesus als Beispiel nehmen und versuchen, uns demütig gebrauchen zu lassen, um den Menschen Gerechtigkeit zu schaffen, denen Unrecht geschieht.

Was erlebst du in deinem Umfeld in Guatemala als ungerecht und leidvoll? Wie gehst du damit um?
Als Schweizerin bin ich mit Zugang zu fliessendem Trinkwasser, einem Bildungs- und Gesundheitssystem und vielem mehr aufgewachsen. In Guatemala kommt es darauf an, in welche Familie du hineingeboren wirst und an welchem Ort du aufwächst. So gibt es Kinder, die schlechten Zugang zu Wasser und keine Elektrizität im Haus haben. Manche Kinder erhalten eine ungenügende Ernährung oder können nicht in die Schule gehen. Es gibt viel Ungerechtigkeit! Ich erlebe oft, dass Ungerechtigkeit und Leid einen Rattenschwanz nach sich ziehen. Aus einem Leid entsteht das nächste Leid. Für mich ist es schwierig und manchmal auch frustrierend, Ungerechtigkeit mitzuerleben und auszuhalten. Ich gebe belastende Dinge im Gebet an Gott ab. Das ist mir eine grosse Hilfe.

Wo erlebst du «die Gerechtigkeit Gottes» – «la justicia de Dios»?
Dies erlebe ich immer wieder in alltäglichen, kleinen und grösseren Situationen. Zum Beispiel konnten wir eine zwölfjährige Schülerin aus meiner Gruppe dieses Jahr endlich auf der Einwohnerkontrolle registrieren. Ein Grund, warum sie nicht zur Schule ging, war unter anderem, dass sie auf dem Papier «nicht existiert». Ihr Vater, ein Alkoholiker, war vor einigen Jahren gestorben. Ihre Mutter war nicht in der Lage, die Tochter und deren Bruder auf der Einwohnerkontrolle anzumelden. So begleitete ich die Mutter auf die verschieden öffentlichen Ämter und zur ehemaligen Hebamme. Wir mussten einige Schreiben erstellen und viel im Wartesaal warten. Wir sind grundsätzlich auf sehr hilfsbereite Menschen gestossen. Ich sehe Gottes Wirken und seine Gerechtigkeit in eben diesen Momenten, wo Türen aufgehen und Wege entstehen, Menschen Recht und Würde zu geben.

Wie gehen Kinder in Guatemala mit der Ungerechtigkeit um, die sie erleben?
Die Kinder, die in Guatemala-Stadt leben, erleben die Ge­gen­sätze von arm und reich viel stärker als die Kinder aus dem Dorf, in dem ich lebe. Viele Kinder hier aus armen Verhältnissen sehen ihr Leben und ihre gewohnte Umgebung als normal an, da sie ja nichts anderes kennen. Erst beim Erwachsenwerden, durch Social Media oder wenn sie in Kontakt mit wohlhabenden Familien kommen, wer­den sie sich der Ungerechtigkeiten bewusst. Ich bewundere viele Kinder für ihre Resilienz! Einzelne müssen schon viel zu früh Verantwortung übernehmen, z.B. auf ihre Geschwister aufpassen. Gleichzeitig entsteht durch den Mangel, den sie in verschiedenen Bereichen erfahren, oft eine Hamstermentalität. Gibt es etwas gratis, stürzen sie sich darauf und nehmen alles mit, egal ob sie es benötigen oder nicht. Mir ist es wichtig, dass ich in erster Linie die Menschen als Schöpfung von Gott betrachte. Ich will sie nicht in Arme und Reiche einteilen.

Murielle Beer arbeitet seit 2021 als interkulturelle Mitarbeiterin in Guatemala. Sie knüpft Kontakte zu Kindern und Jugendlichen, die bisher noch nie oder nicht mehr zur Schule gegangen sind, begleitet deren Integration und unter­stützt Kinder mit Lernschwierigkeiten.

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Wo war da die Gerechtigkeit?