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Dreckspritzer und Glitzerstaub

Jessica Freiburghaus (32) lebt seit März 2021 mit ihrem Ehemann Etienne (32) und ihren Kindern Timéa Hosanna (4) und Yann Adriel (2) im Rahmen des zweijährigen Stride-Programms in Costa Rica, der «Schweiz Zentralamerikas». Dort wurde im April die Fünfte im Bunde, Joana Michèle, geboren. In ihrer Kolumne nimmt uns Jessica mit hinein in ihre Geschichte(n) mit Gott in dem Land, wo Gott sie und ihre Familie zurzeit haben will. Warum sie dafür den Titel «Dreckspritzer und Glitzerstaub» wählt? Hier ihre Erklärung: «Immer wieder erlebe ich, wie Gott durch alltägliche Situationen zu mir redet. Daran möchte ich andere teilhaben lassen. Mein Alltag in Lateinamerika als Mutter von drei Kleinkindern ist geprägt von zahlreichen Herausforderungen und bekommt immer mal wieder eine Ladung Dreckspritzer ab. Doch genauso erfahre ich Lichtblicke, Aha-Erlebnisse, Begegnungen mit Gott inmitten des ganzen Trubels. Dieser wunderschöne Glitzerstaub bleibt an den Dreckspritzern kleben und lässt dadurch eine Situation plötzlich in einem neuen Licht erstrahlen.»

Hier Ihre Beiträge:

 


 

Nicaragua Nicaraguita – lebensverändernder Einsatz

Lebensverändernde Einsätze. Zwei Wörter, die bei mir ein Meer von Emotionen auslösen und mich zurück ins Jahr 2009 katapultieren. Die Erinnerungen an die 15 Monate in Nicaragua sind so lebendig, als ob mein damaliger Stride-Einsatz mit Latin Link erst wenige Tage zurückliegen würde. 20-jährig, Single, unbekümmert (oder eher naiv?) und voller Tatendrang. Meine Spanischkenntnisse begrenzen sich auf «hola, gracias, adios» und von Nicaragua weiss ich nicht viel mehr, als dass es nicht in Afrika liegt (was ich damals immer wieder gefragt wurde...).

An einem Donnerstag Ende September lande ich im Land der tausend Vulkane. Am Flughafen erwarten mich die tropische Hitze, der Geruch von frischem Regen, die schrillen Trillerpfeifen der Polizisten und andauernde Hupgeräusche. Meine Anfangszeit in Nicaragua ist geprägt von zahlreichen Eindrücken, die auf mich einströmen und mir zeigen: Ich bin eine Fremde und gehöre nicht dazu. Ich fühle mich wie ein hilfloser Vogel, der aus seinem Nest gestossen wird, um seine ersten Flugversuche zu machen. Nicaragua ist so ganz anders als alles, das ich bisher kennengelernt habe. Und doch ist da etwas, das mich vom ersten Moment an fasziniert und mein Herz berührt.

Tage, Wochen und Monate vergehen. Was mich anfänglich überrascht, wird zur Normalität. Nebst der Landessprache lerne ich, meine Wäsche von Hand zu waschen, zweimal täglich Reis mit Bohnen zu essen und das Plumpsklo mit Kakerlaken zu teilen. Auch, dass ich meine Schuhe nicht in der Öffentlichkeit ausziehen soll und dass die kalte Dusche zwingend am Morgen zu erfolgen hat. Vor allem aber, dass Zeit ein dehnbarer Begriff ist, dass «anders» nicht «falsch» bedeutet und dass Fremde nicht nur zu Freunden sondern sogar zu Familie werden können.

Dezember 2010. Erneut befinde ich mich am Flughafen von Managua. Die tropische Hitze, der Geruch vom frischen Regen, die Trillerpfeifen...alles scheint gleich zu sein, wie bei meiner Ankunft vor 15 Monaten. Alles? Nein, etwas hat sich verändert. Und dies bin ich. Zwar ist meine Haut noch immer weiss und meine Augen blau. Doch was niemand sieht: mein Herz ist nun «moreno» (Hautfarbe der Nicaragua­ner). Denn während meiner Zeit in Nicaragua lernte ich nicht nur, mit Stolz die Nationalhymne singen, sondern auch Land und Leute lieben. Dass mein Einsatz für viele zum Segen wurde, ist für mich ein Geschenk Gottes. Noch mehr aber wurde mein eigenes Leben beschenkt und verändert. Meine Beziehung zu Jesus tiefer, mein Herz weicher, mein Horizont breiter.

Und nun, ein Jahrzehnt später, befinde ich mich in Costa Rica, dem südlichen Nachbarsland von Nicaragua. Die Umstände könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch ich spüre, dass auch dieser Einsatz lebensverändernd ist.

Jessicas Kolumne

Nicaragua wurde zu meiner zweiten Heimat (Bild von 2010) 


 

 

HEIMAT

 

Die Zeit vor unserer Ausreise war sehr intensiv, unerwartete Schicksalsschläge brachten mich ins Schleudern. Nichtsdestotrotz behielten wir die Gewissheit, dass Gott unsere Familie in Costa Rica wollte. Für viele eine Traumvorstellung: eindrückliche Vulkane, tropische Vegetation, erholsame Sandstrände. Für uns: ein Überlebenskampf, weit weg von dieser Idylle. «Wir», das sind: eine hochschwangere Frau, ihr Fels in der Brandung (auch Ehemann genannt) und ihre zwei ach so herzigen (oder, je nach Tagesverfassung, ach so nerventötenden…) Kinder. Einen Monat und eine Hausgeburt später sind wir zu fünft in Tres Ríos, einer Kleinstadt nahe der Hauptstadt San José.

Nach der ersten intensiven Eingewöhnungszeit (die noch immer nicht abgeschlossen ist…) fahren wir für eine Woche Auszeit auf die Halbinsel Nicoya. Mitte Woche verkündige ich meiner Tochter, dass wir noch zweimal in diesem mit haarigen Spinnen, leuchtenden Glühwürmchen und weiteren undefinierbaren Insekten bevölkerten Bungalow übernachten und anschliessend heimfahren werden. Timéa schaut mich mit grossen Augen an und fragt ernsthaft: «Wo ist ‹Daheim›?» Ich stutze. Runzle die Stirn. Überlege. Ja, wo ist denn unser Zuhause, unser Daheim, kurz, unsere Heimat? Das unscheinbare Dorf in der Westschweiz, wo unsere Familie entstand? Bei den Grosseltern, wo zahlreiche Kindheitserinnerungen ruhen und wir auch in Zukunft willkommen sein werden? In Tres Ríos, wo wir zwar die Nachbarn kennen, uns dennoch oft als Exoten fühlen? Anscheinend gibt es für meine Tochter kein eindeutiges «Daheim» mehr. Und so wird mir zum ersten Mal bewusst, dass ich Mutter von drei sogenannten «TCK» (third culture kids) bin, die in verschiedenen Welten und Kulturen leben. Die gleichzeitig überall und doch nirgends zu Hause sind.

Mein Sohn wackelt an mir vorbei. Mein Blick fällt auf seinen Body mit der Aufschrift «Daheim ist, wo Mama und Papa sind». Dieses Kleidungsstück hatte ich ganz bewusst in den Reisekoffer gelegt. Es erinnert mich daran, dass mein Mann und ich dafür verantwortlich sind, unseren Kindern ein Stück Heimatgefühl zu vermitteln.

Und wie steht es um meine eigene Heimat? Darüber war ich mir, aus diversen Gründen, noch nie so ganz im Klaren. Folgender Bibelvers ist mir in der Vergangenheit wichtig geworden und gibt mir auch in diesem Moment Halt: «Wir dagegen haben unsere Heimat im Himmel. Von dort erwarten wir auch Jesus Christus, unseren Herrn und Retter.» (Philipper 3,20). Wie tröstlich zu wissen, dass ich und meine Familie eine Heimat im Himmel haben. Dass diese Sehnsucht und diese Ruhelosigkeit in mir eines Tages gestillt werden. Dann, wenn ich bei Jesus sein werde, in meiner einzig echten Heimat.

 

Heimat ist für jeden etwas anderes. Wo ist unsere Heimat?


 

Erlebt

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